Antoni Tàpies besaß bis zuletzt eine unwiderstehliche Anmut, eine Unvermitteltheit und geistige Präsenz, wie sie nur wenigen gegeben ist. Als Katalane stand er zunächst auf den Schultern von Joan Miró. Mit diesem durch seine Offenheit für Dadaismus und hermetischen Surrealismus verbunden, teilte er mit ihm nicht nur den Erfindungsreichtum bildnerischer Zeichen und Symbole, sondern auch die Verteidigung republikanischer Werte. Letztere geriet bei dem Jüngeren ungleich konsequenter. Tàpies opponierte gegen Francos diktatorische Übergriffe – Eliminierung der katalanischen Flagge, der Sprache, des Nationaltanzes - bis tief in seine Kunst hinein, etwa in dem katalanischen Flaggenmotiv der vier roten Streifen auf gelbem Grund. Noch in den 70er Jahren bestrafte der Staat den Künstler, dessen Ruhm bereits international gefestigt war, mit kurzfristiger Gefangenschaft, weil er gegen einen francistischen Schauprozeß protestiert hatte. Tàpies' politische Wachheit und Verantwortungsbereitschaft war durch den Liberalismus seiner großbürgerlichen Familie vorgegeben. Der Großvater war Bürgermeister von Barcelona gewesen. Noch als Jugendlicher hatte Tàpies die Bombardierung seiner Heimatstadt Barcelona aus nächster Nähe erlebt. Das sollte ihn prägen und bis an sein Ende mit erstaunlicher schöpferischer Kraft begaben.
Während des vom Vater aufgedrängten, nicht abgeschlossenen Jurastudiums (1944–1946) nimmt Tàpies 1944 für zwei Monate Zeichenunterricht an der Kunstakademie Valls. Das reicht. Fortan sucht er seinen eigenen Weg und findet ihn zunächst in Collagen mit ersten Verwendungen aus Papier, Fäden und anderen kunstfremden Werkstoffen. 1948 wird er Gründungsmitglied der bedeutenden spanischen Avantgardegruppe Dau al Set (Würfel mit sieben) und setzt sich verstärkt mit Klee, Schwitters, Picabia und Max Ernst auseinander. Ein einjähriger Stipendien-Aufenthalt in Paris 1950–1951 bringt die Begegnung mit Picasso und läßt ihn teilhaben an den Künstlerdebatten um Existentialismus und Marxismus. Dubuffets und Fautriers direkter Umgang mit Sand und dicker Farbpaste und die befreiende Art Brut tun ein Übriges, ihn schließlich seine eigene, zutiefst humane Ästhetik entdecken zu lassen: aus dem freien Umgang mit haptischen Materialien und der ingeniösen Inszenierung von Gebrauchsgegenständen aller Art eine Sprache zu entbinden, die im Betrachter archaische Erinnerungen und innere Handlungsaufforderungen auslöst.
Tàpies stand dem Zenbuddhismus nahe. Er wußte um die mystische Qualität der Leere. Aus seiner meditativen Konzentrationfähigkeit rührt die helle Spannkraft seiner Linien, aus der barocken Tradition spanischer Malerei das schwere Glühen seiner Farben. In seiner großen Belesenheit, seiner philosophischen Neugier und Ernsthaftigkeit verkörperte Tàpies den Typus des aufgeklärten, umfassend gebildeten Intellektuellen, der seine Kunst in das Leben tragen will.
Weltweit geehrt und mit Preisen überhäuft, stieß der Maler, Graphiker, Bildhauer und Theoretiker Antoni Tàpies besonders in Deutschland auf begeisterte Sammler. Künstler wie Emil Schumacher (1912–1999) oder Jürgen Brodwolf (Jg. 1932), um nur diese zu nennen, sind historisch nicht ohne ihn zu denken.
Christa Lichtenstern