Bei der Ankündigung eines Vortrags von George Steiner ist man versucht, sich mit der bloßen Nennung seines Namens zu begnügen. Wem eine erste Begegnung mit seinen kunst- und kulturkritischen Schriften noch bevorstünde, den möchte man fast darum beneiden und ihm eine Erkenntnis- und Beunruhigungsbereitschaft wünschen, für die es bei diesem wunderbaren Schriftgelehrten reichhaltig-bekömmliche Nahrung gibt. In Büchern wie Tolstoj und Dostojewski, seiner Grammatik der Schöpfung oder seinem Nachdenken Warum denken traurig macht, in einem Durchgang durch die abendländische Kulturgeschichte am Leitfaden der Antigone-Mythe oder in dem Spätbuch Meine ungeschriebenen Bücher (2007) leuchtet eine europäisch-jüdische Geistigkeit auf, für die es einen ebenso vielsprachig beredten wie in die Tiefe denkenden Vermittler vielleicht nicht gibt.
Steiner, der in Cambridge lebt, lehrte Komparatistik in Cambridge, Genf, Oxford und Harvard. Er ist Mitglied unserer Akademie. Peter Horst Neumann