Kunstliteratur und Kunstgeschichte beschäftigen sich seit Jahrhunderten mit der Bewegung des Auges. Blickverläufe dienen vielfach der Beschreibung von Architektur, Skulptur und Malerei. Gelegentlich werden sie zur Erklärung stilistischer Besonderheiten herangezogen. Neuere Techniken ermöglichen es, Blickbewegungen mit höchster Präzision zu messen. Auf der Grundlage von Studien, die ich seit einigen Jahren in einem eigens eingerichteten Eye-tracking-Labor durchführe, werde ich den Ablauf von Gemäldebetrachtungen schildern. Die Ergebnisse dieser Aufzeichnungen bestätigen, daß es enge Korrelationen zwischen der Struktur von Kunstwerken und dem Verhalten des Betrachters gibt. Sie zeigen aber, daß der Blick sich anders verhält, als es die Kunstliteratur angenommen hat. Dies eröffnet neue Wege für die kunstwissenschaftliche Forschung. R. R.
Raphael Rosenberg, geb. 1962 in Mailand, ist Vorstand des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Wien und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Er ist Autor von Beschreibungen und Nachzeichnungen der Skulpturen Michelangelos. Eine Geschichte der Kunstbetrachtung (München/Berlin 2000) sowie Turner – Hugo – Moreau: Entdeckung der Abstraktion (München 2007).