Dagmar Nick, die Dichterin aus Breslau, die in München heimisch wurde, ist eine der großen Lyrikerinnen der deutschen Sprache. Ihr Werk nimmt literaturgeschichtlich, wie das von Rose Ausländer und Ingeborg Bachmann, seit Langem einen außerordentlichen Rang ein. Es wird von den Themen Liebe, Verlust, Hoffnung, Trauer und Lebensmut in einer Intensität bestimmt, die in der Poesie der Gegenwart einzig ist. Dieses lyrische Ich läßt zwischen seinen Erfahrungen und den Worten, in denen es überlebt, kein Ausweichen, keine Milderung, keine Schonung zu. Die metaphorische Kunst der Gedichte ist immer zugleich Wahrhaftigkeit, Einsicht, Erkenntnis. Man kann im Werk von Dagmar Nick, das neben den Gedichtbänden auch poetische Reisebücher, Hörspiele und fiktive Monologe mythischer Frauengestalten enthält, seit 1948 eine stetige lyrische Präzisierung lesen – verbunden mit einem bewundernswerten Mut, an den Abgründen, die jedes Leben bereithält, sich durch die Kraft der Poesie zu bewähren: Meine verschollene Schwester, / die Melancholia, kehrte zurück. / Ohnmächtig sehe ich zu, wie sie / in meinem Bett deinen Platz / besetzt, meine Ausrufezeichen, / auch meinen Schlaf, und wie sie / sich abends die Zöpfe flicht, / die sie mir liebevoll anbietet / in der Nacht als Ersatz / für einen Strick. (Aus: Gewendete Masken, 1996) Gert Heidenreich