Wollt ihr nun wissen, was und wer ich bin, so sage ich: Mir ist als Bub von 10-12 Jahren so gründlich wie vielleicht keinem der Glaube an das Menschliche im Menschen herausgeprügelt worden, daß es viele Jahrzehnte, fast bis an die Grenze meines Greisenalters gebraucht hat, bis ich wenigstens einiges wieder zurückgewinnen konnte. Und ohne diesen Glauben kann kein Mensch existieren. Meine einzige Rettung war, daß ich – um nicht eines Tages meinem Leben den Garaus zu machen – mit einer bohrenden Verbissenheit ohnegleichen stets vor mir selber und der Öffentlichkeit Beichte ablegte, mich derart entlarvte und bloßstellte, daß es mir vor mir selbst unsagbar graute. Und da es in der Natur jeden Menschen liegt, stets von sich auf andere zu schließen, so kann man sich denken, welche Erschütterungen dieses sich immer wiederholende Grauen in mir hervorgerufen hat. Es steigerte sich schließlich zum ohnmächtigen Eingeständnis, daß der Mensch eine unergründliche Fehlleistung der Schöpfung sei, wie ein Blatt im Wind hilflos ausgeliefert den Mächten seiner Herkunft, seines mühseligen Werdens und der dunklen, fast unbezwingbaren Triebe. Das trieb mich zum Schreiben, und daß auch der Mitmensch dadurch ermutigt wird, so in sich zu schauen und dadurch zu einer Verträglichkeit mit seiner Umwelt zu kommen, war einzig und allein der Sinn meines Schaffens und Wirkens.
Oskar Maria Graf
Dieter Hildebrandt und Christoph Well lesen Texte von Robert Neumann und Oskar Maria Graf.
Die nächste Veranstaltung: 4. Abend: 25. Juni