Wolfgang Hildesheimer (1916–1991), Mitglied der Gruppe 47, erlangte durch seine zahlreichen Hörspiele, Theaterstücke und Prosawerke als Schriftsteller große Bekanntheit. Als Künstler und Verfasser von Rezensionen widmete er sich darüber hinaus zeitlebens der bildenden Kunst. Sein Werk umfaßt zahlreiche Zeichnungen, Malereien und Collagen. Seine bildnerischen Arbeiten wurden bislang nur unzureichend als wichtiges Element seines gesamten künstlerischen Wirkens gesehen. Die Analogien in den methodischen Verfahrensweisen im Bildkünstlerischen und Literarischen zeigen sich besonders in den Collagearbeiten, auf die sich Hildesheimer in den achtziger Jahren konzentrierte. Die Ausstellung vereint rund 150 Handskizzen, Zeichnungen und Collagen mit Kommentaren und literarischen Textverweisen. Darüber hinaus wird Hildesheimers künstlerisches Umfeld durch ihm gewidmete Werke von Horst Janssen, Not Bott, Jürgen Brodwolf und anderen dokumentiert.
Zur Ausstellung erscheint eine Publikation von Hilde Strobl.
Collage
Wenn ich sage, daß meine Collagen einzigartig sind, so spreche ich selbstverständlich nicht von ihrer künstlerischen Qualität, sondern ich demonstriere die Erweiterung des Begriffes Collage. Ich spreche von den Sonderheiten meiner Materialwahl, meines Arbeitsprozesses und der damit verbundenen intendierten Bildwirkung. Ich verwende weder Teile von Kupferstichen aus früheren Dekaden, wie Max Ernst und Peter Weiss es taten, noch dienen mir die inkongruenten Abfallstücke, wie sie bei Kurt Schwitters zu Poesie wurden. Auch arbeite ich nicht mit selbsteingefärbten Streifen wie Italo Valenti oder gar mit proklamatorischen Elementen, wie Hanna Höch oder John Hartfield es taten. Meine Arbeit hat auch weder ein ästhetisches noch ein thematisches Generalprogramm. Ich will auch »nichts damit sagen« , außer natürlich mit dem einzelnen Bild die Assoziationslust des Betrachters in jene Bahnen lenken, die ich selbst eingeschlagen habe, um – spreche ich es aus – Schönheit zu erzeugen. Schönheit, wie wir sie wohl alle im Traum oder in der Erinnerung oder in der Einbildungskraft erfahren, aber auch Schönheit, die vergangenes Bangen, alte Ängste und Alpträume zu positiver Erfahrung, wenn nicht gar zu rauschhaftem Erleben aller Vergänglichkeit verklärt.
Daher sind mir die Titel sehr wichtig. Sie bezeichnen die Wege zum potentiellen Nacherleben des Betrachters. Wann immer möglich, d. h. wenn die Farbflächen in ihrer berechnenden Abgestimmtheit erlauben, das fremde Element der Schrift anzubringen, integriere ich den Titel in die Komposition.
Denn jedes Bild hat sein Thema, das sich durch assoziatives Erkennen definieren soll. Nur wenige Bilder sind von Anfang an als Abstraktionen gedacht, obgleich sie manchmal dazu werden, nämlich dann, wenn das beabsichtigte illusionistische Element allmählich von den Zwängen der reinen Komposition verdrängt wird, so daß es schließlich verschwindet. Öfter aber ist das Gegenteil der Fall: meist bildet sich das Thema im Laufe der Verdichtung der Komposition. Sobald es sich zu erkennen gibt, arbeite ich auf seine Verdeutlichung hin. Im Zuge dieser Verdeutlichung und der damit verbundenen zunehmenden Strenge der Engführung bieten sich noch hier und dort alternative Möglichkeiten, d. h. Andeutungen, daß bestimmte Seitenwege zu einem anderen, vielleicht überzeugenderen, vielleicht auch leichter erreichbaren Ziel führen. Mitunter nehme ich sie wahr, so daß mein Bild sich dem ursprünglichen Konzept entfremdet. Nehme ich sie aber nicht wahr, wird das Ausgangsthema plötzlich gebieterisch, und nunmehr erscheint die Gefahr, daß ich die Komposition durch den hartnäckigen Willen zur Verdeutlichung überanstrenge. Einen Text kann ich streichen und kürzen, bei der Collage kann ich das Zuviel meist nicht rückgängig machen.
Wolfgang Hildesheimer: Die Ästhetik der Collage, 1984