Mag der Spiegel notorisch zur Polemik und Zuspitzung neigen, in diesem Punkt waren seine deutlichen Worte unbedingt angebracht: »Noch immer findet die Bundesrepublik keinen angemessenen Umgang mit dem schmutzigen Erbe – ein moralisches Desaster.« Gemeint war der Umgang des Landes mit dem von Nationalsozialisten geraubten Kunstwerken, die sich nach wie vor im Besitz der öffentlichen Hand befinden.
Heute, ein knappes Jahr nach diesem Befund des Hamburger Magazins, wirkt der Fall Gurlitt wie ein Katalysator, der der Debatte um Raubkunst und Enteignungen »entarteter Kunst« einen enormen Schub verleiht. So dankenswert dies – jedenfalls in der Sicht der ehemaligen Eigentümer der Kunstwerke – erscheint, so symptomatisch ist es zugleich für den in der Tat häufig so beschämenden Umgang von Staat und Museen mit den Restitutionsansprüchen der Opfer. Denn nur derart spektakuläre Affären vermögen es noch, aus der über Jahrzehnte eingeübten politischen Apathie und Passivität, die die Bewältigung der NS-Kunstraubzüge lähmt, wenigstens vorübergehend aufzurütteln.
Doch den Zeitverlust von nahezu 70 Jahren seit Kriegsende kann natürlich auch die aufgeregteste öffentliche Debatte nicht mehr wettmachen. Abgesehen davon, dass trotz der großen Zeitspanne selbst die Provenienzforschung noch in den Kinderschuhen steckt, fehlt der politische Wille, die immensen rechtlichen Probleme anzupacken, denen sich viele Opfer der NS-Enteignungen heute gegenübersehen, wenn sie die Herausgabe ihres Eigentums erreichen wollen. Allein die argumentativen Verrenkungen, die nötig sind, um wenigstens in Einzelfällen die
30-jährige Verjährungsfrist auszuhebeln, drücken die ganze Kalamität aus. Man hat sich in der Debatte angewöhnt, vor allem die Verjährungsfrage als einen »Widerspruch zwischen Moral und Recht« zu betrachten. Doch dieser Konflikt ist nicht schicksalshaft vom Himmel gefallen. Zwar verpflichtet die Washingtoner Erklärung von 1998 die öffentliche Hand tatsächlich nur moralisch, auf die Einrede der Verjährung zu verzichten. Doch niemand hat den Gesetzgeber daran gehindert, diese Moral beim Wort zu nehmen und eine entsprechende gesetzliche Regelung zu treffen. A. Z.
Andreas Zielcke, ursprünglich als Anwalt tätig, war bis 2008 Chef des Feuilletons und leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung; seither ist er weiterhin als Autor bei der Zeitung unter Vertrag.