Das gedruckte Buch galt lange Zeit unangefochten als das wichtigste Organ der Bildung und Wissensvermittlung, und daran vermochte auch McLuhans Rede vom Ende des Gutenberg-Zeitalters nichts zu ändern. Erst in den letzten Jahren ist ein ganzes Gefüge von Medien, Werten und Praktiken so sehr in Bewegung geraten, daß das Schreiben und Lesen von Büchern bisweilen wie ein Anachronismus mit begrenzter Lebensdauer wirkt. Dafür gibt es Gründe, die weit über den technologischen Wandel hinausreichen. Denn die unübersehbare Nörgelei über das gedruckte Buch ist nur zur einen Hälfte Ausdruck einer Kulturkritik, die ihr Unbehagen an der Gegenwart mit einer übertriebenen Erwartung an die Möglichkeiten des Digitalen verbindet. Zur anderen geht es um neue Geschäftsmodelle, mit denen der Informationskapitalismus den Übergang vom Papier zum Digitalisat zu steuern versucht. Die Frage nach der Zukunft des gedruckten Buches kann aber auch nicht losgelöst werden von neuen Formen des Lesens und Schreibens, bei denen nicht mehr ganz klar ist, ob kritisches Denken und Erfahrungslust oder Algorithmen das Szepter führen. In seinem Vortrag gibt Michael Hagner eine Bestandsaufnahme zum gedruckten Buch in Literatur, Künsten und Geisteswissenschaften, bei der es keineswegs darum geht, digitale Medien zu verwerfen. Er plädiert vielmehr für eine Ökologie des Buches, die der Reichweite unterschiedlicher Medienformate gerecht wird und erkennt, daß gedruckte Bücher der Relevanz von Erzählung, Argument und Theorie am ehesten Ausdruck verleihen. M. H.
Michael Hagner ist Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Zuvor arbeitete er am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und war Gastprofessor in Salzburg, Tel Aviv und Frankfurt a. M. Veröffentlichungen u. a.: Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung (2006); Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung (2004).