Dante Alighieri, dessen 750. Geburtstag die literarische Welt in diesem Sommer feiert, hatte keine Freunde. In der Einsamkeit seiner prekären Existenz, die ihn nach seiner Verbannung aus Florenz im Jahr 1302 von Ort zu Ort, von Hof zu Hof führte, war ihm sein Lebenswerk, die Commedia Partner und Freund zugleich. In der Commedia aber erschuf Dante sich einen imaginären Freund in der Gestalt Vergils, der seiner Zeit als größter antiker Dichter galt. Vergil ist nicht nur Dantes Führer durch Inferno und Purgatorio. Als Dichter ist er Dantes leuchtendes Vorbild. Vor allem aber verbindet Dante und Vergil die Schicksalsgemeinschaft des Exils. Vergil, der sich nicht rechtzeitig zum Christentum bekehrte, ist auf ewig in das Exil des Limbo, der Vorhölle verdammt. Der Dante in der Commedia sieht seinem Exil noch entgegen, das ihn in Wirklichkeit schon ereilt hat. Die Erfahrung des Exils begründet Dantes Sorge um Vergil ebenso wie Vergils Sorge um Dante. Zwischen dem impulsiven Dante und dem stoisch selbstbeherrschten Vergil entsteht so jenseits der asymmetrischen Rollenkommunikation von Lehrer und Schüler eine diskrete Sprache des tiefsten Einvernehmens.
In Delacroix’ Bild der Dante-Barke wird die freundschaftliche und doch spannungsreiche Nähe der beiden Dichter unmittelbar sinnfällig. K. S.
Karlheinz Stierle ist Romanist und Literaturwissenschaftler. Von 1988 bis zu seiner Emeritierung 2004 hatte er den Lehrstuhl für Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz inne. Zu seinen Forschungsgebieten gehören u. a. die Formgeschichte der französischen und italienischen Literatur, einen Schwerpunkt seiner Forschung bildet das Thema Dante und Petrarca zwischen Mittelalter und Renaissance. Karlheinz Stierle ist Honorarprofessor an der Universität Saarbrücken und Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Von 2003 bis 2005 war er Präsident des Deutschen Romanistenverbands.