Die Frage nach der eigenen Identität hat sich keine andere Nation so oft gestellt wie die deutsche. Das Problem »Was ist deutsch?« ist von Wagner und Nietzsche über Thomas Mann bis zu Adorno in zahllosen Traktaten erörtert worden. Die Antworten auf jene Frage pendeln, mit bisweilen extremen Ausschlägen, zwischen einem welteinschließenden – kosmopolitischen – und einem weltausschließenden – nationalistischen – Pol. Das Dritte Reich hat den übernationalen Aspekt, welcher der Wesensbestimmung des Deutschen ursprünglich eigen ist und den sich zumal das deutsche Judentum zueigen gemacht hat, gänzlich ausgeschaltet und die Frage »Was ist deutsch?« in einem rein nationalistischen Sinne beantwortet. Dem steht die Überzeugung von der spezifischen Weltbürgerlichkeit des Deutschseins gegenüber: der Grundgedanke des modernen deutschen Humanismus von Goethes Konzeption der »Weltliteratur« bis zu Thomas Manns Idee des »Weltdeutschtums«,der Glaube, daß es den europäischen Nationen beschieden sei, ihre Grenzen auf die Einheit Europas und der Menschheit hin zu überschreiten. Die Rückbesinnung auf diese vornationalistische Reflexion über die Frage nach dem Wesen des Deutschen ist angesichts der gegenwärtigen Krise Europas aktueller denn je. D. B.
Dieter Borchmeyer
ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Heidelberg. Von 2004 bis 2013 war er Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Im Jahr 2000 erhielt er den Bayerischen Literaturpreis (Karl-Vossler-Preis).