Zu den Rätseln der amerikanischen Literaturgeschichte gehört die unfaßbar späte Entdeckung ihrer größten Dichterin. Emily Dickinson (1830 -1886) mußte bis in die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts warten, bis ihre etwa 1800 titellosen und höchst kompakten Gedichte in einer Ausgabe erscheinen konnten, die das Wunder ihres Dichtens ans volle Licht brachte. Freilich, lyrischer Konformismus war ihre Sache nicht. Als zeitlebens ungedruckte Autorin konnte die scheinbar weltentrückte »Einsiedlerin von Amherst« ohne Kompromisse mit dem Zeitgeschmack ihrem urpoetischen, ebenso selbstverständlichen wie rücksichtslosen Anders- Sehen und Anders-Sagen der Dinge nachgehen.
Expression, Aus-Druck, bedeutet für sie ein Geschenk von Druck: »Essential Oils – are wrung«. Immer ist die Dickinson-Handschrift unverkennbar – im radikalen Verzicht auf das schmückende Beiwort, in der zerrissenen, gleichsam nach Atemstößen rhythmisierten Syntax, und nicht zuletzt im Kontrast zwischen dem schlichten Metrum und den Inhalten, die es in abgründiger Lakonik mitteilt. Die Lesung folgt den Themenkreisen, zu denen die Dichterin immer wieder zurückkehrt und deren – oft dichte, nie hermetische – Texte sich gegenseitig erhellen: Natur, Liebe, Tod, seelische Ekstasen und Katastrophen – all dies zugleich mit den Augen kindlicher Frische und unendlicher Erfahrung gesehen. Werner von Koppenfels wird bei der Lesung seiner Übertragungen die Originale möglichst oft mit anklingen lassen. W. K.