»Das meiste, was im deutschen Theater auf mich einstürzt, ist nicht totale Freiheit, sondern totale Neurose. Was soll den armen Teufeln denn auch noch einfallen, um das Publikum und vor allem die Kritik dazu zu bringen, auch nur die Augenbraue zu heben. Ein junger Regisseur erhält den Auftrag, Kleists Zerbrochenen Krug zu inszenieren. Er selbst hat das Stück siebenmal in verschiedenen Fassungen gesehen. Er weiß, daß sein Publikum von Kindesbeinen an einundzwanzig Versionen gesehen hat und daß die Kritik sich durch achtundfünfzig Fassungen durchgegähnt hat. Jetzt kommt es also darauf an, frech zu sein, wenn man sich profilieren will. Freiheit ist das nicht. Inmitten dieses Chaos blühen Theatererlebnisse, geniale Interpretationen und entscheidende, explosive Ausbrüche. Die Leute gehen ins Theater, beklagen sich laut. Oder freuen sich. Oder beklagen und freuen sich. Die Presse ist mit von der Partie. Ununterbrochen detonieren lokale Theaterkrisen, ein Skandal löst den anderen ab, Kritiker schänden und werden geschändet, es ist, kurz gesagt, ein teuflischer Radau. Krisen in Massen, aber kaum eine richtige Krise.«
So Ingmar Bergman bereits 1987 in Laterna magica. Mein Leben. Zum 100. Geburtstag des großen schwedischen Film- und Theaterregisseurs, der einige Jahre in München gelebt und am Residenztheater inszeniert hat, lesen Kerstin Specht und Michael Krüger aus seiner Autobiographie.