Manfred Koch: Der Engel des Klangs – Zu Rilkes Duineser Elegien
Die berühmtesten Verse der Duineser Elegien hat Rilke gehört, bevor er sie schrieb. Nach eigener Aussage bekam er den Anfang seines großen Gedichts von einer fremden Stimme diktiert. Im Januar 1912 war er Gast der Fürstin Marie von Thurn und Taxis in deren Schloß Duino an der Adriaküste. Ein Spaziergang führte ihn eines Morgens auf einen schmalen Weg über Felsen, die mehr als 60 m steil ins Meer abfielen. Da war ihm plötzlich, so gibt die Fürstin Rilkes Bericht wieder, »als ob im Brausen des Sturmes eine Stimme ihm zugerufen hätte: ,Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?’ Lauschend blieb er stehen. ,Was ist das?’ flüsterte er halblaut, ...,was ist es, was kommt?’« Es kam – noch am selben Tag – die ganze erste Elegie, kurz darauf erfolgte die Niederschrift der zweiten. Dann aber häuften sich die langen Phasen der Schreibkrise. Insgesamt zehn Jahre lang kämpfte Rilke, zunehmend verzweifelt, um die Vollendung der Elegien. Sie gelang Anfang Februar 1922 in einer Art Inspirationsrausch an seinem letzten Lebensort, Schloß Muzot im Wallis.
Rilkes Schilderung des Erlebnisses, dem wir die Elegien verdanken, ist aufschlußreich: Der Ort der Eingebung ist ein einsamer, schwindelerregender Weg. Die Stimme der Dichtung ertönt am Rand eines Abgrunds, eingelassen in das Rauschen der Meeresbrandung und des Sturmwinds. Das Szenario ist ein prägnantes Bild für jene Verbindung von »Schönem« und »Schrecklichem«, die das Hauptthema der ersten beiden Elegien ist. Kunstwerke, hat Rilke einmal gesagt, seien »immer Ergebnisse des In-Gefahr-gewesen-Seins, des in einer Erfahrung Bis-ans-Ende-gegangen-Seins, bis wo kein Mensch mehr weiter kann«. Das Ziel des eigenen Schreibens nannte er in seiner Pariser Zeit »Dinge machen aus Angst«.
Gelungene Dichtung entsteht demnach gerade aus furchtbaren Grenzerfahrungen. Im Entsetzen des Ich-Verlusts, im drohenden psychischen Untergang wird eine ungeheure, möglicherweise kreative Energie entbunden. In diesem Sinn bezeichnet die Zweite Elegie die Engel als »fast tödliche Vögel der Seele«. Sie sind das mythische Bild für die Übermacht im eigenen Inneren, die zerstörend wirken, aber eben dadurch auch die Gnade einer neuen, unerhörten Sprache schenken kann. Deshalb werden die Engel von Beginn an sowohl angelockt als auch abgewehrt, sind Schrecken und Verheißung zugleich. Das »Große« in uns, das uns so unendlich »übersteigt«, daß wir es niemals aufklären und domestizieren können, ist ein Lebensthema Rilkes. Die Dritte Elegie beschwört die Macht des Sexus, jenes dunklen »Fluß-Gott des Bluts«, dem wir hilflos ausgeliefert bleiben. In der Vierten Elegie öffnet sich zwar des »Herzens Vorhang«, aber nur um zu zeigen, daß wir beim Blick in die eigene Seelentiefe unvermeidlich einer Täuschung verfallen: Wir stoßen nicht auf unser ’wahres Ich’, sondern auf trügerische Scheingestalten – Tänzer, Schauspieler, »halbgefüllte Masken«. Der Mensch der Duineser Elegien ist sich selbst auf unheimliche Weise ein unbekanntes Wesen.
Hier setzt die Gegenwartskritik des Gedichts an. In früheren, religiösen Zeitaltern gab es noch, so ließe sich der Schluß der Zweiten Elegie erläutern, verbindliche Ausdrucksformen für die entgrenzenden seelischen Energien: Gebete, Bilder, Sakralbauten wie die großen Kathedralen. Die moderne, durchrationalisierte Gesellschaft hingegen läßt den Einzelnen allein mit den Gewalten seines Inneren. Aber bräuchten nicht auch wir gemeinsame Äquivalente für das Ekstatische in uns, das uns »noch immer« dauernd überwältigt, vor allem in der Erfahrung von Liebe und der Angst vor dem Tod? »Denn das eigene Herz übersteigt uns /noch immer wie jene. Und wir können ihm nicht mehr/nachschaun in Bilder, die es besänftigen, noch in /göttliche Körper, in denen es größer sich mäßigt«.
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Rainer M. Rilke, Porträtaufnahme
Rilkes Anspruch mit den Duineser Elegien ist nichts geringeres, als solche Äquivalente durch seine Dichtung zu schaffen. Gleichzeitig mit den letzten Elegien entstanden die Sonette an Orpheus. Dort wird dem mythischen Sänger Orpheus die Aufgabe gestellt, »Tempel im Gehör« zu erbauen. Auch die Duineser Elegien wollen, vergleichbar der Stätte einer religiösen Erhebung, Halt und Kraft gebende, erhabene Klanggebäude sein. Als »Elegien« sind sie per definitionem ein Klagegesang, der menschliches Leid unter den Bedingungen des modernen »Zeitgeists« thematisiert (vor allem in der Siebten und der Zehnten Elegie). Die Dynamik ihres Rhythmus, das Mitreißende ihres Tons aber macht sie zugleich zu Hymnen. Rilkes großes Gedicht »rühmt« die in allen Zerstörungen, allen Lebenswirrnissen immer wieder hervorbrechende, unbegreifliche schöpferische Energie des Menschen – aber nicht, indem es darüber redet (in der Art eines philosophischen Texts), sondern indem es sie durch seine Sprachgestalt bezeugt und fühlbar macht. Deshalb sind die Duineser Elegien im Grunde auch kein Lese-Text.
Rilke selbst hat wiederholt betont, daß die Gedichte erst im lauten Sprechen wirklich da sind. Sie müssen zum Klangkörper, ja zum Klangereignis werden nur im Vollzug des Sprechens und für die Dauer dieses Sprechens ersteht der »Tempel im Gehör«. Entsprechend sollen die Rezipienten seiner »schwierigen Elegien« sich in erster Linie auf die klanglich-rhythmische Bewegung des Textes einlassen. Es liege »im Wesen dieser Gedichte«, schreibt Rilke 1925, »daß sie mehr angelegt erscheinen, mittels der Eingebung des Gleichgerichteten, als mit dem, was man ’Verstehen’ nennt, erfaßt zu werden«. Man übertreibt nicht, wenn man im Wunder der Levitation, des religiösen ’Abhebens’, von dem die Erste Elegie berichtet, die letzte Wirkungsabsicht dieser Poesie entdeckt: die Hörer körperlich zu ergreifen und, wenigstens für Augenblicke, den gewöhnlichen Boden unter den Füßen verlieren zu lassen: »Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur / Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf / aufhob vom Boden«.
Eines der Sonette an Orpheus beschwört unsere Fähigkeit, das Ohr zu bilden, es zu einem ausgezeichneten Organ der Weltzuwendung zu machen: »Und wir, Hörende endlich!« Gleichgültig, ob man den Duineser Elegien im Vortrag von Franziska Walser und Edgar Selge zum ersten Mal begegnet oder sie bisher nur gelesen hat: Hier bietet sich die Möglichkeit, in diesem emphatischen Sinn auf ganz neue Weise Hörer zu werden und diese Jahrhundertpoesie als das zu erfahren, was sie wesentlich ist: ein unvergleichliches Ereignis von Rhythmus und Klang.