Ist etwas mit der Literatur los? Es könnte sein. Nach wie vor erscheinen interessante Romane, einnehmende Gedichte. Dennoch: Anläßlich von Neuerscheinungen sowie ihrer Charakteristik in den Selbstanzeigen der Verlage und den Argumenten der Rezensionen ist eine spezifische Misere erkennbar: Der literarische Blick verliert sich. Stattdessen die Tendenz zur Emotionalisierung wohlbekannter Gefühle zwischen Erotik und Familienkonflikt oder die Tendenz, öffentliche Debatten politisch-moralischer Natur zu wiederholen. Man kann beide Versionen »Lebenshilfe« nennen. Diese wiegt bei der Mehrheit der sogenannten Sachbücher inzwischen ohnehin vor. Daß sie auch in literarischen Texten auftaucht, macht diese Tendenz zum Symptom. Will man einen nachdrücklichen Eindruck von dessen Gegensatz bekommen, dann lese man noch einmal jene Romane des 19. und 20. Jahrhunderts, die zwar gerade durch ihren emotionellen oder historischen Inhalt berühmt wurden, aber solchen Inhalt jeweils in Gehalt verwandelten. Die Differenz springt in die Augen bei Stendhal, Balzac und Flaubert, ihrer Behandlung von Emotions-Gestalten in der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, ebenso bei William Faulkners und Claude Simons Darstellung des Krieges, des amerikanischen Bürgerkriegs und des Kriegs von 1940. Faulkners und Simons Stil über den Krieg löst diesen in seltsam gegenständliche Bilder auf, ohne Erklärung. Es gibt keine Tendenz zur »Meinung«, geschweige jener aktuelle Effekt, dem Leben des Lesers nahe zu treten. K. H. B.
Karl Heinz Bohrer ist Professor emeritus für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld und seit 2003 Visiting Professor an der Stanford University. Zuletzt: Das Erscheinen des Dionysos, antike Mythologie und moderne Metapher (2015), Jetzt: Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie (2017).
Was ist der Wert der Kunst? Eine Vortragsreihe im ersten Halbjahr 2019 mit folgenden Referentinnen und Referenten:
Thomas Bauer
Karl Heinz Bohrer
Anne-Marie Bonnet
Stefan Hunstein
Christian Metz
Max Nyffeler
Günter Rohrbach
Martin Seel
Karlheinz Stierle
Simon Strauß
Daniela Strigl
Der Eintritt zu der Veranstaltung ist frei, eine Anmeldung nicht erforderlich. Bitte haben Sie dafür Verständnis, daß unser Platzangebot begrenzt ist. Daher werden eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung am Haupteingang der Residenz Platzkarten vergeben. Der Zugang zur Akademie ist nicht barrierefrei.