»Mit K(atja) über die ‚Morde des Buches: Reisi, Annette, Preetorius, Geffcken. Schlimm, schlimm.« Der Tagebucheintrag Thomas Manns vom 18. Juli 1947 erlaubt es, im Hinblick auf die oft unbarmherzigen Porträts ihm nahestehender Personen von metaphorischen Tötungsdelikten zu sprechen. Im vorliegenden Fall handelt es sich um den Roman Doktor Faustus, dessen bevorstehendem Erscheinen der Autor mit Sorge entgegensah. Der Gedanke an die durch vier- zehn Emigrationsjahre unterbrochene Beziehung zu alten Freunden wie Hans Reisiger und Emil Preetorius, mit deren vorwurfsvoller Reaktion der Dichter zu rechnen hatte, nötigte ihn zu langen Beschwichtigungsbriefen an die Betroffenen. Aber die Reihe der Figuren, die ihre literarische Existenz einer zum Kunst- Prinzip erhobenen »Rücksichtslosigkeit der beobachtenden Erkenntnis« verdanken, ist lang. Sie reicht, um die spektakulärsten Beispiele zu nennen, von Christian Buddenbrook über Detlev Spinell (Tristan), das inzestuöse Zwillingspaar (Wälsungenblut), den im Zauberberg prominent auftretenden Mynheer Peeperkorn, in dem Gerhart Hauptmann sich wutenbrannt wiedererkannte, die preisgegebenen eigenen Kinder (Unordnung und frühes Leid) bis zu den »Kruditäten« des Faustus, unter denen Thomas Mann, wie er in einem Brief bekannte, vor allem die »Bloßlegung des Schicksals« seiner Schwestern verstand. Die »vom Teufel diktierte« Montage-Technik seines Schreibens sei schuld.
Was dem Verfasser des Faustus keine Gewissensbisse bereitete, ist der furchtbar grausame Meningitis-Tod des kleinen Nepomuk Schneidewein. Das Modell, der geliebte Enkel Frido, war seinerzeit sechs Jahre alt und erfreute sich bester Gesundheit. Aber keiner der »Morde« stieß noch Jahrzehnte nach dem Tod des Täters auf eine so erbitterte Kritik. Der angeklagte Autor hatte freilich schon als Dreißigjähriger mit dem Essay Bilse und ich ein, wie er glaubte, letztgültiges Wort zum Thema gesprochen. Genügt die Argumentation dieser Selbstverteidigung für einen Freispruch des »Mörders«? A.v.S.