Der Zeichner Tomi Ungerer sagte einmal, jeder Stern am Himmel sei das Ende einer Geschichte. Er meinte damit nicht die alten Mythen der Sumerer, der Ägypter oder der Griechen, sondern die unzähligen persönlichen Geschichten jedes einzelnen Menschen. Als mein Vater während des zweiten Weltkriegs als Soldat nach Russland eingezogen wurde, sah er jeden Abend um 10 Uhr zum Alkor, jenem Reiterlein hinauf, das auf der Deichsel des Großen Wagens sitzt. Zur gleichen Zeit blickte meine Mutter in unserem schwäbischen Dorf Beuren bei Neu-Ulm nach dem Stern, und obwohl er viele Lichtjahre von uns entfernt strahlt, fanden die beiden mit diesem Blick in die Vergangenheit für Minuten eine gemeinsame Heimat. Regelmäßig schrieb mein Vater Briefe nach Hause, die meine Mutter sammelte und in einem Koffer aufbewahrte. Mein Bruder ließ ihn mir im vergangenen Jahr zukommen. Bei Durchsicht dieser Briefe kam mir der Gedanke, einen Klavierzyklus Briefe aus der Einsamkeit zu komponieren. Einige dieser Miniaturen werden heute zu hören sein. Sie stehen in ihrer Zerbrechlichkeit im Kontrast zu dem Zyklus Buch der Sterne. Alle erklingenden Kompositionen für Violine, Sopran und Klavier habe ich mit den drei Musikerinnen erarbeitet. Es sind zum großen Teil Frauenportraits. Vorbilder waren Hector Berlioz, Michael Ende, Marc Chagall, Camille Claudel und Antje Tesche-Mentzen. Dass sie am internationalen Frauentag erklingen, freut mich ganz besonders.
1933 nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland reagiert Mark Chagall mit dem Gemälde Einsamkeit, dessen intensive Traurigkeit mich zu einem Stück für den Klezmer Giora Feidman anregte. Während der Coronazeit schrieb ich diese Orchesterpartitur für Klavier solo um und fügte sie in meinen Klavierzyklus Briefe aus der Einsamkeit ein, den ich im Frühjahr für die ukrainische Pianistin Tanja Huppert begonnen hatte. Bildende Kunst hat mich immer wieder angeregt. Nach Kompositionen über Alastair, Tomi Ungerer, Camille Claudel oder Rudolf Wachter arbeitete ich mit Stefan Ark Nitsche an dem Ballett Camilles Schwester, in dem die Bildhauerin Antje Tesche-Mentzen eine zentrale Rolle spielt. Ihr Bild Venezianische Nike in Blau erklingt in zwei verschiedenen Fassungen. Den Abschluss bildet ein grotesker Tanz nach einem Ausspruch von Charlie Chaplin: „Ich gehe gerne im Regen spazieren, denn dann sieht man nicht, dass ich weine.“ W. H.
© Antje Tesche-Mentzen,
Antje Tesche-Mentzen: »Venezianische Nike in Blau«, Acryl, 0,8 x 1,0 m
Wilfried Hiller (*1941) studierte Klavier und Orgel in Augsburg und arbeitete dort als Organist und Ballett-Repetitor, bevor er sein Studium an der Münchner Musikhochschule fortsetzte. Bei den Darmstädter Ferienkursen 1962 lernte er Peter Hanser-Strecker kennen, seinen späteren Verleger. 1968 gründete er die Konzertreihe „musik unserer zeit“. Im selben Jahr lernte er Carl Orff kennen, mit dem er bis zu dessen Tod eng zusammenarbeitete. Die Begegnung mit Michael Ende 1978 in Rom bedeutete den Beginn einer fruchtbaren künstlerischen Partnerschaft, die bis zu Endes Tod im Jahr 1995 andauerte. Hillers Werke wurden entscheidend durch die Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Elisabet Woska geprägt. Hiller war Stipendiat der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo und von 1971 bis 2006 als Musikredakteur beim Bayerischen Rundfunk tätig. 2010 erhielt er die Wilhelm-Hausenstein-Ehrung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der er seit 1989 als Mitglied angehört. 2010 wurde ihm der Bayerische Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst verliehen.
Programm:
Wilfried Hiller (*1941)
aus Buch der Sterne
88 Sternbilder für die 88 Tasten des Klaviers
Ursa Maior - Alkor, der Stern der Sehnsucht
Argo - das Schiff der Argonauten
Lyra - Skordatur im Wasser
Herkules
aus Vernissage für Violine solo
nach Skulpturen von Antje Tesche-Mentzen
Der Goggolori
Die große Blüte
Lilith
Schulamit
aus Camilles Schwester
Duett für einen Sopran
Text von Stefan Ark Nitsche
Briefe aus der Einsamkeit für Klavier solo
Uraufführung
Einsamkeit 1933 (nach Marc Chagall)
Nike in Blau I (nach Antje Tesche-Mentzen)
Ukrainisches Lied
Nike in Blau II
Spaziergang im Regen (nach Charlie Chaplin)
Ophelia für Violine solo
Erotische Visionen nach Motiven von Hector Berlioz
aus Trödelmarkt der Träume für Sopran, Violine und Klavier
Das Mädchen Einsamkeit
Text von Michael Ende
Ausführende:
Anna-Lena Elbert, Sopran
Franziska Strohmayr, Violine
Tanja Huppert, Klavier
© Privat,
Ursula Adamski-Stoermer
Dr. Ursula Adamski-Störmer, geboren 1959 in Lünen/Westfalen, Lehramtsstudium Musik und Kunst an der Universität Dortmund. Aufbaustudium in Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Publizistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Abschluss mit der Promotion zum Dr. phil. Ab 1983 arbeitete sie als freie Autorin und Musikjournalistin für verschiedene Tageszeitungen und Fachzeitschriften. 1992 Hospitanz beim Bayerischen Rundfunk in der Redaktion BR-KLASSIK (damals Bayern 4 Klassik) in München. Anschließend feste freie Mitarbeit für diverse Musik-Redaktionen in München und im BR Franken in Nürnberg (damals Studio Franken) als Autorin, Moderatorin und Redaktionsvertreterin. Seit 1997 leitet sie die Musikabteilung bei BR Franken in Nürnberg und ist verantwortlich für das multimediale Musikprogramm aus Nordbayern im Bayerischen Rundfunk. Sie ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft der Förderer der Hochschule für Musik in Nürnberg e. V., Kuratoriumsmitglied des Mozartfests Würzburg, Kuratoriumsvorsitzende der familieneigenen Heinrich-Bußmann-Bildungs-Stiftung mit Sitz in ihrer Geburtsstadt Lünen, die sich um Bildung und gesellschaftliche Teilhabe Jugendlicher aus bildungsfernen Familien kümmert. Seit 2021 ist sie Mitglied des Direktoriums der Neuen Bachgesellschaft e. V. und seit Januar 2023 Präsidentin des Soroptimistinnen Club Fürth. 2015 wurde die von ihr entwickelte, Genregrenzen überwindende Konzertreihe Passagen als „beispielhaftes innovatives Musik- und Theaterprojekt“ mit dem IHK-Kulturpreis ausgezeichnet.
© Alan Ovaska,
Anna-Lena Elbert
Die Münchner Sopranistin Anna-Lena Elbert schloss ihr Gesangsstudium an der Hochschule für Musik und Theater München mit einem Master in Liedgestaltung ab. Wichtige Impulse erhielt sie hier von Fritz Schwinghammer, Julian Prégardien, Rudi Spring und privat von Tanja d’Althann. Sie pflegt eine rege Konzerttätigkeit mit einem breit gefächerten Repertoire von der Renaissance bis zur Moderne und musizierte dabei mit Orchestern wie den Münchner Symphonikern, dem Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música (Portugal) oder dem Budapest Festival Orchestra. Im Bereich Liedgestaltung ist sie Preisträgerin des Richard-Strauss-Wettbewerbs sowie des Internationalen Helmut Deutsch Liedwettbewerbs Wien und gibt regelmäßig Liederabende, u. a. bei der Schubertíada in Spanien. 2020 gab sie ihr Debüt an der Bayerischen Staatsoper in der Hauptrolle der Kinderoper „Spring doch“ von Gordon Kampe (UA), 2022 debütierte sie bei den Salzburger Festspielen in der Uraufführung des Musiktheaters „Wut“, ebenfalls von von Gordon Kampe.
© Benita von Bemberg,
Franziska Strohmayr
Die Augsburger Violinistin Franziska Strohmayr schloss ihr Studium an der Universität Mozarteum Salzburg bei Prof. Martin Mumelter und an der Guildhall School of Music & Drama London mit Auszeichnung ab. Sie erhielt zahlreiche internationale Preise, etwa den zweiten Preis Giovani Musicisti – Città di Treviso sowie den zweiten Preis Città di Piove di Sacco Padova. Als Solistin trat sie unter anderem beim Musikfest ION (Internationale Orgelwoche Nürnberg), beim Klassikfestival AMMERSEErenade, beim BachZeit Festival in Mondsee und beim Toujours Mozart der Deutschen Mozart-Gesellschaft auf. Mit dem Komponisten Wilfried Hiller, der ihr mehrfach Werke gewidmet hat (erschienen im Schott Verlag), verbindet sie eine enge Zusammenarbeit. Bekannt wurde Strohmayr darüber hinaus durch ihre innovativen Tourneeformate, wie dem Kulturbiathlon – Mit Violine und Fahrrad. In ihrem eigenen Label Leni Records erschienen zuletzt Aufnahmen mit Werken von Heinrich Ignaz Franz Biber, Georg Philipp Telemann und Johann Sebastian Bach. Franziska Strohmayr spielt auf einer Violine von Antonio Gragnani, Livorno, von 1759. Sie wurde mit dem Kulturförderpreis der Landeshauptstadt Salzburg und als Newcomerin 2021 von der Landeskulturstiftung Pro Salzburg ausgezeichnet.
© Vanja Pandurevic,
Tanja Huppert
Tanja Huppert, geboren in Kiew, besuchte die Lysenko-Spezial-Musikschule und spielte bereits im Alter von 15 Jahren Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1. Mit 16 begann sie parallel ihr Studium an der Kiewer Tschaikowsky-Musikakademie und an der Hochschule für Musik und Theater München (bei Gerhard Oppitz und Michael Schäfer), die sie beide mit dem Konzertdiplom abschloss. Beim Bayerischen Rundfunk nahm sie mit den Bamberger Symphonikern (Bayerische Staatsphilharmonie) Mozarts Klavierkonzert Nr. 9 KV 271 „Jeunehomme“ sowie Solowerke von Ravel, Scarlatti und Haydn auf. Ihre Aufnahme von Bachs „Goldberg-Variationen“ BWV 988 wurde 2021 von den Redakteuren des Streamingdienstes Spotify in die Top 3 der klassischen Neuerscheinungen gewählt. Im gleichen Jahr nahm sie Hillers Klavierzyklus „Buch der Sterne“ als Film im Großen Saal der Münchner Philharmonie auf. Tanja Huppert lebt in München und ist als Solistin und Kammermusikpartnerin tätig. Kirill Petrenko, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, bezeichnet ihre Interpretation der „Goldberg-Variationen BWV 988“ von J. S. Bach als »subtil« und »gespielt mit großer Musikalität, Kreativität und hohem technischen Können«.
Der Eintritt zu der Veranstaltung ist frei, eine Anmeldung nicht erforderlich. Bitte haben Sie dafür Verständnis, daß unser Platzangebot begrenzt ist. Daher werden eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung am Haupteingang der Residenz Platzkarten vergeben.