Was bedeutet es, wenn die »oberste Pflegestelle der Kunst« in Bayern, die Akademie der Schönen Künste, eine »Vereinigung von namhaften Persönlichkeiten aus dem künstlerischen Leben«, Vortragende zum Thema Kanon einlädt? Und dann auch noch zu Raffael, Topos und Schreckgespenst des Kanon zugleich! Was kann und soll bei der Erörterung gerade dieser beiden Phänomene herauskommen? Regelwerke sind gemeinhin im Nachhinein aufgestellt worden. Den Kanon der Säulenordnungen haben Alberti und seine Zeitgenossen Mitte des 15. Jahrhunderts nach dem antiken Traktatautor Vitruv entwickelt, nachdem Brunelleschi längst diesem klassischen Vorbild folgend baute. Auch große Künstler der Vergangenheit hat man reichlich bemüht: Der Theoriestreit der Poussinisten gegen Rubenisten im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert in Frankreich ist lediglich ein Beispiel von vielen. Die Akademie nimmt mit der gewählten Thematik ihre ureigene Verantwortung aktiv wahr und macht mit ihrer Frage nach dem Kanon auf die derzeit allseits verzweifelte Suche nach Orientierung aufmerksam. Das Thema ist ein Symptom dafür, dass die Gesellschaft unaufhörlich gewaltigen Veränderungen durch äußere Einflüsse besonders durch fremde Kulturen ausgesetzt ist. Bislang überkommene Identitäten greifen nirgends mehr; die Infragestellung dieser Identitäten stimuliert nicht mehr als Provokation, sondern erzeugt Angst. Äußert sich in der Suche nach Maßstäben ein Bedürfnis nach Qualität, da das Internet nivelliert, um nicht zu sagen »nihiliert«? Wird Politik immer autoritaristischer, indem ihre Vertreter zunehmend mit Dekreten verwalten, das Gespür für die Inspiration, die von den vorhandenen kompetenten Institutionen ausgeht, verlieren und Kreativität fürchten?
An welchem Raffael sucht man Orientierung, an dem Maler, Architekten, Designer, Theoretiker, Unternehmer, Gesprächspartner seiner Auftraggeber? Gelingt es, durch das Cliché des Madonnenmalers hindurchzuschauen, sich seinen Qualitäten produktiv zu stellen? A. N.
Prof. Dr. Arnold Nesselrath leitet (gemeinsam mit Elisabeth Décultot und Ulrich Pfisterer) das Forschungsprojekt Antiquitatum Thesaurus an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, zuvor war er Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin und stellvertretender Direktor der Vatikanischen Museen.
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