Annie Ernaux schrieb 1987 ein Buch über ihre Mutter. Die französische Schriftstellerin suchte mit diesem »Vorhaben literarischer Art« nach einer Wahrheit über die »einzige Frau, die ihr ernsthaft etwas bedeutet« habe, nach einem Bild, das zwischen Überlieferung und Erinnerung »nur durch Worte gefunden werden« könne. Auf eigentümliche Weise gleicht ihre Intention damit dem Anliegen Albrecht Dürers, der seine Mutter, Barbara Dürer, 1514 kurz vor ihrem Tod in einer Kohlezeichnung verewigte. Das Blatt gehört zu den beeindruckendsten Porträts eines alten Menschen. Zugleich stellt es gemeinsam mit einem Bericht über ihr Sterben ein für jene Zeit einzigartiges Dokument der Sohnesliebe dar. Wenngleich mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln navigierten Dürer und Ernaux mit dem Sujet der eigenen Mutter im Spannungsfeld von Intimität und Repräsentation.
Seit Dürer widmeten sich Maler und später zunehmend auch Bildhauer und Schriftsteller dem weiblichen Elternteil in besonderer Weise. In der bildenden Kunst konsolidierte sich der Topos der milden und liebevollen, gelegentlich auch verbitterten Frau fortgeschrittenen Alters. Bis in die Gegenwart gebiert diese Tradition Monumente individueller Erinnerung und Verlebendigung, die von Abnabelung und Distanzierung oder aber von Verlusterfahrung inspiriert sind. Der Vortrag untersucht ein Motiv, das auf dem besonderen Verhältnis von Kindern zu ihren persönlich eng verbundenen Modellen basiert, und fragt, ob sich in der kollektiven Fantasie diesbezüglich ein Kanon manifestiert hat. F. M. K.
Dr. Frank Matthias Kammel studierte u. a. Kunstgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Nach Stationen an den Staatlichen Museen zu Berlin (Bode-Museum) und am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg ist er seit 2018 Generaldirektor des Bayerischen Nationalmuseums in München.
Seit 2002 gehört er zu den Experten der BR-Sendereihe »Kunst + Krempel«.
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